PSYCHOSOZIALE  BERATUNG  FÜR  KINDER  UND  ELTERN

Psychosoziale Beratung für Kinder und Eltern

Geschichte der Hochsensibilität

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Hochsensibilität in der Persönlichkeitspsychologie  

Die Beschreibung von Menschen anhand ihrer Persönlichkeitseigenschaften wurde bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. durch Hippokrates vorgenommen. Er unterschied dabei vier Typen: den aktiven, heiteren Sanguiniker, den eher grüblerischen Melancholiker, den schwerfälligen Phlegmatiker und den reizbaren Choleriker. Seither sind viele neue Erkenntnisse und Herangehensweisen zu diesen rein eigenschaftsorientierten Ansätzen hinzugekommen. Zur Untersuchung der Persönlichkeiten werden heute auch Fragestellungen der unterschiedlichen Informationsverarbeitung bei jedem Individuum und der dynamischen Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Persönlichkeit berücksichtigt, um einen Menschen in seiner Gesamtheit zu erfassen.  

Dem Persönlichkeitsmerkmal Hochempfindlichkeit näherten sich Wissenschaftler schon in der Vergangenheit auf unterschiedliche Art und Weise:   

Der russische Physiologen und Mediziner Iwan Petrowitsch Pawlow (1849-1936), berühmt geworden durch seine Entdeckung des bedingten Reflexes („Pawlowscher Hund“), wies signifikante Unterschiede im menschlichen Nervensystem nach. In einem Experiment setzte er dazu eine Versuchsgruppe von Personen hoher Beschallung aus, bis bei ihnen der sogenannte Punkt einsetze, wo sie ihre Belastungsgrenze erreicht hatten: sie gingen in die Hocke, verschränkten ihre Hände über dem Kopf und wurde kurz darauf bewusstlos. Diesen Zeitpunkt bezeichnete Pawlow als die „transmarginale Hemmung“, also als den Punkt, wo Schluss ist und der Körper vor jeder weiteren Überstimulation geschützt werden muss (Aron, 2007, S. 31). Erstaunlich war die Tatsache, dass es deutlich zwei Gruppen von Menschen gab: die erste Gruppe, nämlich etwa 15- 20 %, erreichte diesen Punkt deutlich früher als der Rest. Erst nach einer längeren Pause erreichten dann die „robusteren Menschen“ diesen Moment der transmarginalen Hemmung. Pawlow war überzeugt, dass die erste Gruppe ihre Anlage vererbt bekommen hatte (Parlow, 2003, S. 54).

Die „Typologie der Persönlichkeit“ des Schweizer Psychiaters und Begründers der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jung (1875- 1961) - mittlerweile in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen - unterteilt grob in den extravertierten und den introvertierten Typen. Ihr Denken, Fühlen, die Intuition und das Empfinden unterscheiden sich dabei jeweils stark voneinander. Diese Typologie ist in mehr oder weniger starken Mischformen ausgeprägt. 

Den introvertierten Menschen - dessen Charakter dem Hochsensibilitätskonzept ziemlich nahe kommt - definiert er dabei nach seinem Verständnis als einen an den inneren Zuständen interessierten Menschen (in Jungs Worten: am „Subjekt interessierten“ ) oder anders gesagt: an der mit dem Objekt selbst verknüpften Bedeutung des Objekts. Bei objektbezogenen Beschäftigungen gehen diesen Menschen häufig Fragen durch den Kopf wie: Warum ist das Objekt da? Welchen Zweck hat es? Wie geht es ihm? Was beschäftigt ihn? u.s.w.

Wie Georg Parlow (2003) in seinem Buch beschreibt, mag sich hier so mancher hochsensible Leser wiederfinden und bestätigen können, dass genau solche banalen Tätigkeiten wie fernsehen, aufräumen, schreiben oder eine Zeitschrift lesen tatsächlich ihre Konzentration schon so sehr in Beschlag nehmen können, dass es vielen von ihnen schwer fallen mag, sich diesen Tätigkeiten im Beisein anderer Menschen zu widmen. „Neben den Erkenntnissen von C. G. Jung ist diese Haltung (lediglich) ein Nebenprodukt dessen, was die sensiblen Introvertierten grundlegend kennzeichnet.(Parlow, 2003, S.52) Jung definiert den extrovertierten Menschen hingegen als jemanden, der „am Objekt selbst interessiert“ ist - und nicht an seiner Bedeutung.

Treffen nun diese beiden Typen aufeinander, so zeigen sie in gleichen Situationen doch recht unterschiedliche Reaktionen (Jung & Jung, 1997, S. 27 ff.), was die Ergebnisse von Iwan Pawlow aufgreift und unterstreicht. Des weiteren stellte Jung fest, dass Introvertierte viel stärkeren, direkteren Zugang zum Unbewusstem hätten - eine weitere Quelle von zu verarbeitenden Reizen. Er schloss daraus, dass diese Menschen durch Rückzug die auf sie einfließenden Eindrücke dosieren müssten (Parlow, 2003, S. 52). Eigenen Einfluss auf reizintensive Situationen zu haben („Selbstwirksamkeit“) sei dafür entscheidend. Jung selbst war begeisterter und bekennender Introvertierter. Sein besonderes Forschungsinteresse galt der Kindheit. Tatsächlich war er der Überzeugung, dass eine angeborene Empfindlichkeit die Wahrnehmung in der Kindheit sehr präge und ihre tiefen Spuren hinterlassen könnte. Die Erziehung und ein vorsichtiger und verantwortungsvoller Umgang der Eltern würden dann entscheidend. Jungs Fokus erklärt sich dabei aus der eigenen Biographie und sicher auch aus einer Zeit, wo es nicht üblich war, die Bedürfnisse von Kindern zu sehen oder wahrzunehmen, geschweige denn, elterliches Verhalten dazu in Beziehung zu setzen und in Frage zu stellen.   

Gleichzeitig ging C.G. Jung bei Menschen mit angeborener Sensibilität immer wieder von einer sehr hohen Resilienz bzw. psychischen Verarbeitungsfähigkeit aus. Anders ausgedrückt: sie sind zwar anfälliger zu Beginn, werden dafür später umso stärker (Aron, 2006, S. 14).

Der britische Psychologe Hans Eysenck (1916-1997) ließ sich stark von C.G. Jungs Untersuchungen der verschiedenen Persönlichkeits-typen beeinflussen. Er stellte ein zweidimensionales System auf, das mit den beiden Extrempolen "Extraversion" und "Neurotizismus" eine ganze Palette mehr an Persönlichkeitsvarianten abbilden konnte.

Hochsensible würde Eysenck dabei tendenziell als introvertiert mit einem tendenziell dominierenden Erregungszustand, der Aktivitäten vermeidet und eher neurotizistisch, also emotional labil, d.h. intensive Reaktionen auf kleinste Reizen, zuordnen.

Eysenck wurde u.a. auch stark beeinflusst durch die Pawlowschen Experimente zur klassischen Konditionierung und war ein strenger Verfechter von präzisen Messungen. Mit seiner Faktorenanalyse versuchte er immer wieder, biologisch messbare Grundlagen für Persönlichkeitswesenszüge nachzuweisen. Aber ganz besonders der Neurotizismus - die Schnelligkeit von Gemütsveränderungen - war schwer konsistent nachzuweisen, was Eysenck 1990 zugab (Asendorpf, 2007, S. 170 ff.; Eysenck, 1990, S. 244 ff.).

Der britische Psychologe Jeffrey Alan Gray (1934-2004) wurde u.a. für sein alternatives Temperamentsmodell zu Eysenck bekannt. In diesem betonte Gray - anders als Eysenck – die Persönlichkeitsdimensionen Ängstlichkeit und Impulsivität (Pervin, 2005, S. 304) und präsentierte dafür genetisch nachweisbare Systeme. Er nannte sie das Verhaltensaktivierungssystem „Behavioral Activation System“ (BAS) bzw. das „Behavioral Inhibition System (BIS) Verhaltenshemmsystem. Das BAS-System führt zu Annäherungsverhalten, es reagiert jedoch nur auf die, die mit Belohnung oder Nichtbestrafung verbunden sind . Es wird so eine Mentalität begünstigt, die positive Reize weiterleitet und negative ignoriert. Im Ergebnis zeigt sich dann eine eher impulsive Reaktion, die tendenziell ein Verhalten „ohne Rücksicht auf Verluste“ kennzeichnen würde. Das BAS-System kann der Persönlichkeitsdimension Impulsivität zugeordnet werden.

Das BIS-System hingegen weist eine erhöhte Empfänglichkeit gegenüber Unbekanntheit, Strafe und Nichtbelohnung auf (Asendorpf, 2007, S. 175). Die Reaktionen fallen demnach vorsichtiger und „gehemmter“ aus. Das umso mehr, je unbekannter bzw. sogar bedrohlicher sich die Situation darstellt. Und gleichzeitig wird inneres Verhalten aktiviert, was eine Mentalität begünstigt, die ernsthaft, reflexiv und sorgenvoll ist. Eben das würde der Persönlichkeitsdimension Ängstlichkeit zugeordnet werden. Das Zusammenspiel der Systeme variiert je nach Situation und dominiert innerhalb jedes einzelnen Menschen unterschiedlich: wenn also BAS-Anteile aktiv werden, werden in dem Moment BIS-Anteile (d.h. inneres Verhalten wie z.B. Denken) gehemmt und umgekehrt.

Hochsensible Menschen gehören in erster Linie dem BIS-Typus an: ihre inneren Reaktionen wie z.B. intensive Reflexion sind aktiver als ihre äußeren Reaktionen. Damit sind sie nicht weniger aktiv, vielmehr ist ihr reiches Innenleben für Außenstehende lediglich nicht immer erkennbar.

Auch beim bedeutenden Entwicklungspsychologen Jerome Kagan (geboren 1929) sind im Rahmen seiner Persönlichkeitsforschungen Hinweise auf Hochsensibilität zu finden. Ebenso wie Eysenck oder Gray war auch er auf der Suche nach dem neurobiologischen Nachweis dieser Veranlagung. Seine Herangehensweise glich dabei eher Iwan Pawlow: Kagan unternahm in seinem Labor in Harvard eine Langzeitstudie über 8 Jahre zur Erforschung der Sensibilität: er wollte feststellen, wie rasch und intensiv 4 Monate alte Säuglinge auf jeweils unterschiedliche Reize reagieren würden. Diese Reize setzte er gezielt durch das Gesicht der Mutter, das Gesicht einer fremden Frau, ein buntes Mobilé oder einen knallenden Luftballon - die darauf folgenden Reaktionen der Babys nahm er per Video auf und wertete sie aus: es stellte sich heraus, dass tatsächlich ca. 20 % der Kinder durch starkes Weinen, Zappeln oder dem Versuch, sich zu entziehen, ziemlich rasch reagierten. Weitere 40 % der Probanden blieben tatsächlich ruhig und gelassen, die übrigen 20 % zeigten Mischreaktionen. Die auf Reize stärker reagierenden Babys nannte er  „gehemmt“. Interessanterweise stellte er über einen langen, kontinuierlichen Beobachtungzeitraum von 8 Jahren derselben Kinder fest, dass sie auch im weiteren Verlauf ihres Lebens zu introvertierteren und zurückhaltenderen Kindern heranwuchsen (Parlow, 2003, S. 54; Pervin, 2005, S. 377 ff.). 

Neben diesen Beobachtungen wollte Kagan seine Forschung durch biologische Messungen wie Herzschlag und Blutdruck untermauern und stellte fest, dass die „sensiblen“ Säuglinge unter demselben Stress eine wesentlich höhere Herzfrequenz hatten als die weniger sensiblen. Ebenso war zu beobachten, „dass sich ihre Pupillen schneller und früher weiteten und ihre Stimmbänder sich eher spannten als bei den weniger sensiblen Kindern. Viele HSP (= Hochsensible Personen, Anm.) leiden auch als Jugendliche und Erwachsene noch darunter, dass sich ihre Stimmbänder bei Aufregung anspannen. Dadurch ist uns leicht anzumerken, wenn wir aufgeregt oder im Stress sind. Was den Stress oft noch verstärkt...“  (Parlow, 2003)

Sie empfanden frühzeitiger und gehäufter Stress, konnten diesen schlechter kompensieren und brachten dieses Zuviel deutlich zum Ausdruck. Außerdem fand er heraus, dass der Teil des Gehirns, in dem das Warnsystem sitzt, bei seinen „gehemmten“ Kindern der aktivere war. Bei den "gehemmten Säuglingen", wie Kagan sie nannte, konnte er den Stress in ihren Körperflüssigkeiten eine höhere Konzentration an Noradrenalin aufwiesen. Dieser ist ein Neurotransmitter, der alle Prozesse im Gehirn besser ablaufen lässt. Es wird vom Körper aller Menschen in geringen Mengen dann produziert, wenn auch Adrenalin, das Stresshormon, hergestellt wird. Außer, dass es als Mittler zwischen den Gehirnzellen für effizientere Denkprozesse sorgt, weckt es das Gehirn auf und bereitete es auf bevorstehende Denkprozesse vor. Nun ist Noradrenalin im Blut hochempfindlicher Menschen ständig in ungleich größeren Mengen vorhanden als bei anderen. Das heißt, dass wir tendenziell ständig geistig auf unseren Einsatz warten.“ (Parlow, 2003, S. 57)
  

Ebenso konnte Kagan das Hormon Cortisol, das unter dauerhafter Erregung freigesetzt  wird, in stärkerer Konzentration nachweisen als bei den weniger sensiblen Babys.   

Auch wenn diese Tendenzen nachweisbar wurden, so kam Kagan doch zu der Überzeugung, dass diese anfänglichen Merkmale sich nicht unbedingt durch das ganze Leben ziehen müssten, weil mit steigendem Lebensalter zunehmend auch andere Einflussgrößen geltend gemacht werden konnten: eine Prädisposition, die wir von unserer genetischen Ausstattung her mitbekommen haben, ist alles andere als ein Urteil auf lebenslänglich. Es gibt kein unausweichliches Ergebnis im Erwachsenenleben, das sich aus einem bestimmten Temperament des Säuglings ergibt“. (Kagan,1999, S. 41)   

Wichtig erscheint aber vor allem: es ist eine Tatsache, die biologisch nachgewiesen wurde, dass hochsensible Menschen per se einen erhöhten Cortisol-Spiegel besitzen und mehr Noradreanlin produzieren. Dadurch geraten sie leichter in Stress - was das Erlernen vom Umgang mit Stress zu dem Thema macht. Doch diese zunächst biologischen Gegebenheiten, so weiß man heute, sind durch Erfahrungen beeinflussbar.

Alice Miller (1923-2010), Schweizerische Autorin und Psychoanalytikerin, warf einen ganz anderen Blick auf das Phänomen „Hochsensibilität“. Sie hat in vielen, allgemein verständlichen Werken ihre Einsichten zur Eltern- Kind-Beziehung dargestellt und ist 1979 mit der Veröffentlichung ihres Buches „Das Drama des begabten Kindes“, das in der Folge um - und fortgeschrieben wurde, sehr bekannt geworden. Interessant ist dazu auch das gerade erschienene Buch Das wahre Drama des begabten Kindes (2015) von Alice Millers Sohn Martin, das anhand der Biographie Alice Millers sehr aufschlussreich ist. Ähnlich wie C.G. Jung beschäftigte Alice Miller sich mit der Dynamik zwischen frühen Kindheitserlebnissen und einer tendenziell empfindsamen psychischen Konstitution.

In ihren Darstellungen finden sich viele Hinweise auf hochsensible Kinder. So beschreibt sie den Mechanismus, wie Eltern selbst ungestillte Bedürfnisse aus ihrer eigenen Kindheit mit in die Beziehung zu ihrem Kind bringen. Diese alten Wünsche würden dann unausgesprochen präsentiert und insgeheim erwartet, dass das Kind nun diesen „alten“  Bedürfnissen nach Aufmerksamkeit, Liebe, Zuhören oder Zeitgeben nachkommt. Kinder ihrerseits brauchen die elterliche Aufmerksamkeit zum Überleben: sie werden also alles tun, um den Elternteil nicht zu verärgern, sie werden zusehen, dass sie ihm seine ungestillten Bedürfnisse aus dessen Kindheit „ersetzen“. Um das schaffen zu können - quasi in die Elternrolle schlüpfen, aber doch „nur“ ein Kind zu sein -  müssen sie die eigenen Bedürfnisse nicht nur unterdrücken, sondern können sie gar nicht erst kennenlernen. Kinder, die vornehmlich die Bedürfnisse der Eltern stillen, fragen sich dabei immer mehr, wie sie sein sollten und was sie tun sollten, um doch noch geliebt zu werden, ohne auf die eigenen Impulse und Bedürfnisse zu hören. Sie können nicht kennenlernen, wer sie sind, was sie wollen, was sie können.   Die äußerlichen Anforderungen, wie ein Kind zu sein hat, welche Leistung es wie zu erfüllen hat, werden, wie Alice Miller sagt, als „Introjekte“ verinnerlicht und abgespalten. Sie arbeiten aber im Inneren unbewusst fort, d.h., das, was nicht zu diesem Menschen  wirklich passt, ihm aber zugeschrieben wurde, bestimmt sein künftiges Verhalten.   

Das Innere rebelliert gegen diesen Übergriff und zeigt nach außen Gefühle wie Neid, Wut, Aggression oder Trauer. Und damit ist ein neuer Erwachsener mit einem neuen ungestillten Bedürfnis (nach eigener Identität) entstanden. Im späteren Leben tritt dann ein über diesen Erwachsenen kommender Impuls auf, die Befriedigung dieses aufgeschobenen Bedürfnisses nachzuholen. Um dieses, teils unbewusste Vakuum, zu schließen eignet sich wiederum das eigene Kind, das sich seinerseits bereitwillig anbietet, die Bedürfnisse des bedürftigen Erwachsenen zu befriedigen.

Auf diese Art wird ein Altruismus weitergegeben, der zerstörerisch wirkt und die weitere psychische Entwicklung schädigen kann. Aus ihm ergibt sich alsdann der für den narzisstischen Menschen typische ambivalente Zustand: ein Pendeln zwischen Depression einerseits und einem Grandiositätsgefühl andererseits, vergleichbar mit einem manisch-depressiven Zustand.

Und all das ist das Ergebnis daraus, dass die Eltern nicht als Eltern, sondern als bedürftiges Kind eigene Bedürfnisse in der Kindheit ihrer Kinder nachholen wollten.

 „Das begabte Kind“, im Sinne von intelligent und feinfühlig, kann nun die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste seiner Eltern besonders gut wahrnehmen und läuft somit ungleich größerer Gefahr, diesem Mechanismus zu unterliegen. Es verliert also auf diese Weise seine Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, geschweige denn zu befriedigen. Besonders Hochempfindliche verzichten zugunsten ihrer geliebten und vielleicht auch 'gefürchteten' Eltern auf ihre eigenen Wünsche und Rechte, aber auch, um die wahrgenommene Not der Eltern zu mindern und ihnen nicht zu deren Problemen die Last eines 'schlimmen' Kindes zu bescheren. (Parlow, 2003, S.55) 

Es leuchtet ein, dass das umso besser funktioniert, je sensibler das Kind ist: je mehr es merkt, dass das, was es wahrnimmt und dem, was ihm vermittelt wird, ein Unterschied besteht, desto mehr wird es sich selbst den Fehler zuschreiben und künftig der eigenen Wahrnehmung nicht mehr richtig trauen. Ein Mangel an Selbstwertgefühl ist die Folge (Miller, 1996). Man möge ergänzen: Das Selbstwertgefühl würde hingegen enorm aufgewertet, wenn das Verhalten der Eltern kongruent wäre, d.h. das, was sie sagen und vermitteln, meinen sie auch so, dass, was ihre Körpersprache sagt, entspricht auch ihrem Inneren. Auf diese Art lernt das Kind sich selbst und seinen eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen, weil es seinen Eltern vertrauen kann. Nichts ist aus heutiger Erfahrung für ein hochsensibles Kind irritierender als ein Erwachsener, dem es anvertraut ist und der nicht die Wahrheit sagt, d.h. der sich nicht kongruent verhält.  Alice Millers Studien belegen vor allem, dass gerade Kinder, die für all das besonders empfänglich und sensibel sind, in noch höherem Maße auf reflektierende, faire, reife und vor allem authentische Eltern und sonstigen Bezugspersonen angewiesen sind. Die hier geschilderte besondere Vulnerabilität verschwindet mit der entsprechenden Verantwortungsübernahme der beteiligten Erwachsenen.   


Das Konzept der Hochsensibilität nach Elaine Aron

Die amerikanische Forscherin und approbierte klinische Psychologin Elaine Aron griff Ende der 1990er Jahre all die bestehenden Forschungsergebnisse zum Thema auf und überprüfte sie auf ihre Stichhaltigkeit für ihre eigenen Forschungen. 1997 erschien in den USA ihr Buch Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality“ (engl.: sensitivity=Sensibilität). Später weitete sie ihre Forschungen auf Kinder aus, so dass schließlich nach Hunderten von Befragungen mutmaßlich hochsensibler Kinder und ihrer Eltern 1999 ihr Buch „Das hochsensible Kind“ erschien. Mit psychologischem Sachverstand, aus einer reichen Erfahrung als Therapeutin und auf Grundlage einer wahren Datenflut wurden systematisch Erkennungsmerkmale, typische, wiederkehrende Fragestellungen, Gemeinsamkeiten, Tipps zum Erkennen der Bedürfnisse und natürlich pädagogische Empfehlungen zum Umgang mit hochsensiblen Kinder zusammengetragen, die in „Komm raus, ich seh dich!“ auch immer wieder mit einfließen. Die Forschungsergebnisse der zitierten renommierten Wissenschaftler haben das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln gestreift und verleihen dem Konzept die naturwissenschaftliche Basis. Doch erst, wenn ein endgültiger neurophysiologischer Nachweis der Hochsensibilität erbracht werden wird - und dieser steht noch aus - würde das Konzept von Elaine Aron zu einer anerkannten Theorie. 

Es gibt allerdings schon eine Reihe von teils neurobiologischen Erklärungsansätzen:  

  • Es handelt sich um eine erblich bedingte spezielle neuronale Konstitution. Aron verglich dazu nahezu genetisch identische Personen miteinander ("Zwillingsforschung") und stellte fest: die äußeren Einflüsse waren weit weniger wirksam, als die inneren (Hochsensibilität). Umgekehrt gesagt: auch wenn die äußeren Lebensumstände stark voneinander abwichen, so blieb das Verhalten konstant. Es war somit ein Charakterzug.
  • Aron konnte überdies eine signifikante familiäre Häufung der Hochsensibilität feststellen. 
  • Außerdem würden die neuronalen System hochsensibler Personen eine besondere Konstitution aufweisen: die Gehirnregionen, die Reize dämpfen sollen, seien aus bestimmten wahrscheinlich genetischen Gründen bei hochsensiblen Personen weniger aktiv. Im Ergebnis ist die Erregung der Großhirnrinde deutlich höher ist als bei anderen Individuen. Denn diese hemmenden Nervenzellen dienen dazu, das Erregungspotentiale und neue Eindrücke nicht überhand nehmen zu lassen, dass nicht zu viel Energie verbraucht wird und das Gehirn wieder „frei“ wird. Ist diese Gehirnregion weniger ausgeprägt, so können also weniger wichtige Reize wie Lärm nicht so einfach weggefiltert werden, erklärt der Hirnforscher Klaus Willmes-von Hinckeldey an der Universität Aachen (Interview vom 26.11.2008, WDR, Lokalzeit Aachen).   
  • Der Thalamus funktioniere bei hochsensiblen Personen anders als bei normalsensiblen, so dass mehr Reize als „wichtig“ eingestuft werden und damit das Bewusstsein erreichen.  Ein messbarer höherer Cortisolspiegel - den auch Jerome Kagan nachwies - ist ein organischer Hinweis darauf.  
  • Die bereits von I.P. Pawlow gewonnenen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Hochsensibilität als Eigenschaft bei allen Lebewesen zu finden ist. Hätte sie keine Funktion oder wäre eine Schwäche, dann hätte sich Hochsensibilität im Sinne der natürlichen Auslese längst von selbst erledigt. Diese 15-20 % jeder Population sichere der ganzen Art aber das Überleben, weil diese Gruppe aufgrund ihrer erhöhten Vorsicht und Sensibilität rechtzeitig Gefahren oder auch unbekannte Futterquellen erspüren könnte. Möglicherweise ist das sogar übertragbar auf den Menschen, der zwar kein Futterproblem mehr hat, dafür aber ein ständig steigendes „Stress- und Überreizungsproblem“. Hochsensible Menschen reagieren zweifellos früher auf krankmachende Umstände.

Neben dieser theoretischen Auseinandersetzung fußten Arons Untersuchungen auf einer  großen Menge an empirischen Material. Zusammen mit ihrem Mann Arthur befragte und beriet sie im weiteren Verlauf Hunderten von mutmaßlich hochsensiblen Erwachsenen anhand von Fragebögen, für die sie eine psychometrische Skala (HSPS) mit 27 aussagekräftigen Fragen entwickelt hatte. Dieser von Aron & Aron entwickelte Test wird heute in der Psychologie standardmäßig zur empirischen Erfassung der hochsensiblen Personen herangezogen. Damit bildeten ihre Forschungsergebnisse eine sehr systematische und gründliche Grundlage, die in führenden Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Die Herausgabe des Buches „The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World overwhelms you“ stieß zunächst in den USA auf großes Interesse, später auch in Europa (Parlow, 2003, S. 50). Im weiteren Verlauf prägte sich der Begriff Hochsensibilität (= „Sensory Processing Sensitivity“ - zu deutsch: Hochsensibilität) und das dazugehörige Konzept aus.

Das Konzept C.G. Jungs zu Introversion und Extroversion griff Elaine Aron mit einem Unterschied auf: die pure Feststellung, hochsensible Menschen seien automatisch introvertiert, konnte Aron nach ihren Befragungen mehrerer Hundert mutmaßlich Hochsensibler nicht mehr halten. Vielmehr stellte sie fest, dass tatsächlich ganze 30 % ihrer Befragten eindeutig sozial Extravertierte, d.h. sehr gesellig und hochsensibel waren. Der Grund: sie waren in einem höchst sozialen Umfeld aufgewachsen, sodass ihnen der Aufenthalt unter vielen Menschen vertraut war, wenngleich sie dafür in deutlich größerem Umfang Zeit für sich selbst brauchten. Das stellte einen großen Unterschied zu den typischen, weniger empfindlichen Extravertierten dar (Aron, 2006, S. 15). 

Mit anderen Worten: Hochsensible sozial extravertierte Menschen sind im Grunde typische introvertierte Persönlichkeiten, die es durch hilfreiche Umstände gelernt haben, sich sozial sehr aufgeschlossen zu verhalten. Das wiederum heißt, dass die soziale Introversion zwar ein naheliegendes und sehr häufiges, aber kein zwingendes Merkmal für introvertierte / hochsensible Menschen ist.“  (http://www.geistundgegenwart.de/2011/07/hochsensibilitat-und-introversion.html)  

Ein weiteres Merkmal lässt sich dadurch ableiten: Hochsensible verfügen über eine hohe Anpassungsfähigkeit, und ihre Umgebung bestimmt stark ihr Verhalten.

Es ergaben sich viele andere Merkmale, die heute dem Konstrukt der Hochsensibilität zugeschrieben werden und in der Kurzformel „Mehr sehen, mehr wahrnehmen, mehr denken“ gut zum Ausdruck gebracht werden können. Diese Formel prägte Andrea Brackmann in ihrem Buch Ganz normal hochbegabt (2016, 6. Auflage). 

Ganz praktisch könnte sich das in Reaktionen wie das intensivere Wahrnehmen der Umwelt, schnellere Beängstigung und Beunruhigung, höhere Anfälligkeit für Allergien, schnellere Überwältigung bei Situationen wie Lärm, Menschenmengen, fremde Gerüche, visueller Überflutung, Übergangssituationen im Leben äußern. Welche Bereiche der Wahrnehmung besonders sensibel reagieren, ist bei jeder hochsensiblen Person unterschiedlich. Häufig denken sie auch vernetzt, verbinden sehr schnell neuen Input mit „altem“, entwickeln diesen weiter und setzen dann ganze Gedankenketten in Gang. Das nimmt ihr Gehirn in Beschlag. Daneben kommen viele, auch unterschwellige, unausgesprochene Botschaften im Zwischenmenschlichen bei vielen hochsensiblen Menschen an. Oft werden Gefühle der Mitmenschen (über-)deutlich registriert oder regelrecht am eigenen Leib erfahren. Das führt zu einer größeren Informationsmenge, die unter Umständen gar nicht gewollt ist, trotzdem aber irgendwie verarbeitet werden muss. In solchen Situationen der Überstimulation treten dann (hochsensible) folgerichtige Reaktionen auf, die bei der Umwelt wiederum für Unverständnis und Irritationen sorgen. So mancher mag denken, diese Menschen wären schneller erschöpft, weniger belastbar oder schüchtern. Diese Beobachtungen werden jedoch erst ins rechte Licht gerückt, wenn die Hintergründe bekannt sind. Denn in Wahrheit ist der Organismus und seine Energien der hochsensiblen Personen schlichtweg an die Verarbeitung einer großen Fülle von Eindrücken gebunden. Das ist laut Aron das entscheidende Kriterium: hochsensible Menschen erkennt man nicht an einem gemeinsamen Verhalten, sondern an einem gleichen inneren Antrieb, nämlich der Verarbeitungstiefe und -intensität, mit der sie Informationen aufnehmen.  

Aron war vor allem daran interessiert, ihre Erkenntnisse für die „Betroffenen“ praktisch nutzbar machen zu können und einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Im Verlauf der vielen statistischen Erfassungen, aus denen zahlreiche psychologische Beratungen hervorgingen, wurde der Bedarf dafür offenbar. So entschied sie sich ganz bewusst, ihre Ergebnisse und psychologischen Empfehlungen in die Hände der hochsensiblen Personen zu geben und ihnen eine Anleitung an die Hand zu geben, wie mit einem hohen Maß an intensiven Gefühlen und deren Verarbeitung umzugehen sei. Letztlich war das Selbstverständnis dieser Personengruppe gleichermaßen durch eine höhere Akzeptanz und Verständnis durch die Umwelt signifikant zu stärken, was insbesondere auch für Heranwachsende gilt.   

Die amerikanische Psychotherapeutin erweiterte darum Ende der 1990er-Jahre ihre Untersuchungen auf Kinder. Was sie vor allem immer wieder gestört hatte, war der Unterton und die damit verbundene Terminologie der bisherigen Forschungsergebnisse, die den Wesenszug Hochsensibilität zu erklären suchten. Denn was mag es konkret für ein hochsensibles Kind und seine Persönlichkeitsentwicklung bedeuten, wenn es soviel sieht, denkt und wahrnimmt?

Grundsätzlich gilt für hochsensible Kinder dasselbe Regelwerk zur Lebensgestaltung wie für erwachsenen HSP. Allerdings sind Kinder aufgrund ihres geringen Erfahrungshorizontes, ihrer körperlichen Verfassung (…) und ihrer gesellschaftlichen Stellung oft besonders schnell in einer schwachen Position. Dies addiert mit der komplexen Reizwelt, die durch die Medien aufgebaut wird, und den spezifischen Belastungen in der Familie, Kindergarten, Schule und Gruppen außerhalb dieses Systems PLUS ihre Hochsensibilität  machen ein stattliches 'Päckchen' aus, das es erst einmal zu tragen gilt.“
(
Vgl. Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität e.V., http://www.hochsensibel.org/startseite/kinder-und-jugendliche.php)

Nicht Gehemmtheit oder Schüchternheit waren ihren Untersuchungen nach die Triebfeder  hochsensiblen Verhaltens, sondern vielmehr Vorsicht. Das herauszustellen war ihr ebenso ein Anliegen wie eine höhere Akzeptanz, Toleranz und Verständnis für Kinder mit diesem Charakterzug zu schaffen.


Literatur

Aron, E. N. (2007): Sind Sie hochsensibel?: Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen. Sonderausgabe Heidelberg, Neckar: mvg Verlag

Asendorpf, J.B. (2007): Psychologie der Persönlichkeit. Berlin, Heidelberg, New York:    Springer Verlag  

Brackmann, A. (2016): Ganz normal hochbegabt, Leben als hochbegabter Erwachsener, Stuttgart: Klett  Cotta, 6. Auflage

Eysenck, H. J. (1990): Biological dimensions of personality. In: Pervin, A. L.; Cervone, D.; John, O. P. (2005): Persönlichkeitstheorien. München: Ernst Reinhardt Verlag

Geist und Gegenwart (2011): elektronische Quelle:  http://www.geistundgegenwart.de/2011/07/hochsensibilitaet-und-introversion.html, letzter Zugriff:  20.10.2015  

Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität e.V. (Hrsg.) (2012): elektronische Quelle: http://www.hochsensibel.org/startseite/kinder-und-jugendliche.html, letzter Zugriff: 20.10.15

Jung, C. G. & Jung, L. (1997): C. G. Jung Taschenbuchausgabe: in 11 Bänden. 5. Aufl. München: Dt. Taschenbuch Verlag

Kagan, J. (2001): Die Natur des Kindes. Weinheim/ Basel: Beltz

Kuhl, J. (2010): Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie: Motivation, Emotion und Selbststeuerung. Göttingen: Hogrefe Verlag

Miller, A. (1996): Das Drama des begabten Kindes - eine Um- und Fortschreibung. Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag

Miller, M. (2013): Das wahre Drama des begabten Kindes: Die Tragödie Alice Millers- wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken, Freiburg i. Breisgau: Kreuz Verlag   

Parlow, G. (2003): Zart besaitet: Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen. 2. überarbeitete Auflage, Wien: Festland Verlag

Pervin, A. L.; Cervone, D.; John, O. P. (2005): Persönlichkeitstheorien. München: Ernst Reinhardt Verlag 

Willmes-von Hinckeldey, K. (2008): Interview vom 26.11.2008, WDR, Lokalzeit Aachen

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